Dienstag, 23. April 2013

... und immer wieder die Gitarre


Es gibt keinen anderen Weg. Ohne Helen kann er in diesem Haus nicht wohnen bleiben. Der Triumphblitz in ihren Augen, heute Morgen beim Abschied. Er spürt ihn noch in der Herzgegend. „Wir hören voneinander“, hören voneinander …
Den ganzen Tag über hat ihn das kaputt gemacht, den ganzen Nachmittag hat er geheult. Sein Tagebuch neben der leeren Kaffeetasse auf dem Nachttisch. Er nimmt es in die Hand. Streicht über das dunkelrote Leder, so weich. Überall hat er es dabei. Was würde er nur tun ohne diesen geduldigen Zuhörer? Was soll aus ihm nur werden?
Es wird still sein hier im Haus, wenn er morgen Nachmittag von seiner Mutter zurückkommt, totenstill. Die Geräusche von der Straße werden nichts mit ihm zu tun haben, von weit her werden sie kommen. Rasenmäher, Traktoren und Stimmen in Watte gepackt. Genau wie jetzt. Wieder wird er auf dem Sofa liegen und die Lichtstreifen der Abendsonne werden ganz langsam an der Wand entlang wandern, das Bücherregal erreichen, von Lücke zu Lücke springen, bis zum Boden, bis sie verschwunden sind. Er wird darauf warten, dass es dunkel wird in diesem Haus. Auf nichts sonst wird er warten, auf niemanden.
Von Helen ist er kuriert. Mit ihr will er nichts mehr zu tun haben, wird von ihr befreit sein, ein für alle Mal. Wie konnte er nur in diese Abhängigkeit geraten? Der Weg ist zu Ende, hat sie gesagt, sie beide wären an ihrer kaputten Jugend gescheitert. Nein, nein, nicht die kaputte Jugend. Sie ist im Irrtum. Der Grund ist ein anderer. Helen bringt es nicht fertig, ihn neben sich zu akzeptieren, einen Hausmann. Das wollte er ihr noch sagen an dem Abend, als sie an der Küchentheke saßen und sie endlich Klartext redete. Vieles wollte er ihr noch sagen, zum Beispiel, dass sie selbst ihn doch unbedingt als Hausmann haben wollte, seinerzeit, als Aaron klein war.
Übermorgen wird er sich das möblierte Zimmer ansehen. Nicht hier im Ort, sondern im Nachbardorf. Mitleidige Blicke könnte er nicht ertragen. Dann Schrittchen für Schrittchen seinen Weg in die Freiheit organisieren. Er glaubt fest daran, dass er seine innere Ruhe wieder findet und irgendwann auch wieder schlafen kann.
Als sie vor einem Jahr in dieses Haus einzogen, konnte er sich nicht vorstellen, jemals wieder auszuziehen. Alles war so, wie er es sich erträumt hatte, offene Räume, Holztreppe, Innenhof. Gut durchgeplant und liebevoll ausgestattet, in warmen Farben. Zugegeben, es stimmte da schon nicht mehr so richtig zwischen ihnen. Die getrennten Schlafzimmer sollten eine Chance sein, Distanz ermöglichen, damit sie sich nicht von ihm bedrängt fühlte. Irgendwann würde sie wieder so sein wie früher, zärtlich und offen. Niemand außer ihm kannte diese Helen. Sie würden schon wieder zusammenfinden, Karriere und Erfolg nicht mehr so wichtig für sie sein. Wenn sie doch endlich aufhören würde, verbissen ihren beruflichen Zielen nachzujagen!
Was zieht sie zu dem anderen Mann? Warum fühlt sie sich von dem nicht eingeengt? Täglich ist sie mit ihm zusammen, von morgens bis abends und nun auch in den Nächten. Mit ihm ist sie glücklich. Gemeinsam gehen sie zum Tanzen und besuchen Konzerte. Sogar eine Reise haben sie gebucht. Selbst für Urlaub hat sie plötzlich Zeit.
Martin wischt die Tränen ab, obwohl er weiß, dass das nichts nützt, dass er sich nicht wehren kann gegen die Traurigkeit, und schon gar nicht, wenn er jetzt aufsteht, zum Plattenspieler schlurft, sich neben den Hund auf den Teppich legt und wieder und wieder diese Stimme hört und die Gitarre, wie sie weint, wieder und wieder, er weiß nicht mehr, wie oft, musste die Langspielplatte schon neu kaufen, weil er den Kratzer nicht ertragen konnte, den kleinen Kratzer. Weil das Lied so kurz ist, muss er die Nadel immer wieder neu aufsetzen, immer wieder den Anfang finden: „I love you, you love him, there’s nothing I can do. It was in my destiny to fall for you. You say why, don’t I try to find someone new? It was in my destiny …“

(Song: Destiny, José Feliciano, Anne Murray 1970)

Leseprobe "Destiny" aus: Wenn wir von Liebe reden


Montag, 15. April 2013

... und von Hammamunga


Bisher erzielte man mit der Suchanfrage nach ‚Hammamunga’ null Ergebnisse. Seit einiger Zeit jedoch gibt es im Internet Hinweise auf ein Forum, dessen Mitglieder zu diesem Begriff Geschichten verfassen. Da ist es die Bezeichnung für eine sensationelle Neuzüchtung der grünen Mungbohne oder es geht um ein hammamungisches Horrorkabinett auf der zweiundvierzigsten Straße in New York City oder um einen Chip, der irgendwo im Moor schlummert, bis ein Experte ihn aufspürt, der das Kennwort entschlüsselt, um mit Hilfe der gespeicherten Formel die Menschen von ihrem totalen Kontaktverlust zu heilen, den sie sich durch ein datenhungriges Virus zugezogen haben, das in Sekundenbruchteilen sämtliche Computer der Welt infiziert.
Natürlich würde sich niemand mit solchen Überlegungen beschäftigen, wenn es nicht tatsächlich ein Wesen mit diesem Namen gäbe. Es sieht zunächst aus wie eine herkömmliche Glühbirne, deren transparentes Oberteil in mehr oder weniger klarer Kontur, jedoch darunter kein Innenleben, erkennbar ist. Den unteren Teil bildet eine Art Spule, ähnlich der Odradek’schen Zwirnsspule, aber kupfern glänzend, wie ein Relais, nur viel größer und dicker. Darunter befinden sich zwei kugelförmige Füßchen, mit denen es sich erstaunlich flink fortbewegen lässt, wenn sich jemand nähern will.
Hammamunga hält sich zeitweise im Keller, auf dem Dachboden, im Treppenhaus oder im Wohnzimmer auf, selten im Wintergarten und nie im Garten. Ab und zu hockt sie zur Bettzeit in einer Ecke des Schlafzimmers, stört aber nicht weiter. Am nächsten Morgen ist sie nicht mehr da. Oder sie zappelt um das Notebook herum, eine Störung, die sich durch Beenden des Standby-Modus beheben lässt. Es kommt auch vor, dass sie wochenlang gar nicht zu sehen ist; dann ist sie wohl in andere Häuser umgesiedelt. Doch kehrt sie unweigerlich wieder zurück in unser Haus.
Manchmal, wenn man im Obergeschoss aus dem Zimmer tritt, lauert sie unten am Treppengeländer. Dann ist man geneigt, sie anzusprechen. Man stellt ihr keine schwierigen Fragen, sondern behandelt sie wie ein Kind, schon ihrer kleinen Füße wegen. ‚Wie heißt du denn?’, fragt man. ‚Hammamunga’, antwortet sie. ‚Und wo wohnst du?’ ‚Wohnort unbestimmt’, lacht sie. Das Lachen klingt so ein bisschen wie Rascheln oder Knistern, aber doch noch ganz anders und hält sich einen Moment lang in den Ohren. Übrigens sind diese Antworten nicht immer aus ihr herauszulocken. Meistens bleibt sie stumm, wie das Plastikmaterial, das sie zu sein scheint.
Was wird einmal mit ihr geschehen? Vergeblich frage ich mich, ob sie denn sterben kann. Sterben kann doch nur jemand, der einen Anfang gehabt hat, eine Tätigkeit, an der er sich verbraucht hat, zumindest jedoch einen Lebensweg. Sein Lebenskreis hat sich geschlossen, heißt es dann in der Traueranzeige. Hammamunga wird weder bei Sonnenschein, Nebel oder klirrendem Frost in einem Erdloch verschwinden, noch eines Tages beim Trip im brasilianischen Dschungel, im Eisbruch des Himalaya oder beim Absturz eines Fliegers in den Wellenbergen des Atlantiks. Eigentlich kann ich ja auch nicht sagen, dass sie wirklich jemandem schadet. Wenn da nur nicht dieser schon fast schmerzliche Gedanke in meinem Kopf wäre, die Vorstellung, sie sollte mich auch noch überleben. Wird sie einstmals noch vor den Füßen meiner Kinder, Enkel und Urenkel mit nachziehendem Metallfaden die Treppe hinunterkullern?


Leseprobe "Hammamunga" aus: Wenn wir von Liebe reden 


Freitag, 12. April 2013

... und eine kleine kugelförmige Gestalt treffen



Kaum jemand verirrte sich hierher zwischen die schwarzen Gesteinsbrocken; Überreste eines Vulkanausbruchs, die den Strand zu einem unwirtlichen Ort machten. Irgendwo da oben war der Lavastrom vor Jahrzehnten herausgeschleudert worden und hinunter geflossen bis ins Meer. Hier war sie allein mit dem Felsriesen, der dunkel gezackt in den Himmel ragte und die Bucht zum Süden hin abgrenzte, angelockt von der Verheißung einer unendlichen Weite hinter dem Horizont. Es fiel ihr jedoch schwer, den Blick abzuwenden vom beharrlichen Spiel der Brandung, deren Gischt immer neue Muster in den schwarzen Sand zeichnete. Der Morgen war noch jung, und ihr war einen Moment lang, als wäre der Dämon der vergangenen Nacht gefangen im Wirbel der Wellen, die in unermüdlichem Gurgeln, Sprudeln und Klatschen die großen und kleinen Steine umspülten. Noch einmal war sie davongekommen, als hätte die Sonne sich ihrer erbarmt, sie erlöst vom Platz am Rande des Kraterabgrundes.
Doch Erlösung gab es nicht. Die frischgrünen Reben im Sonnenwald waren erschlafft, der einst so würzige dunkelrote Wein fade und blass geworden. Nichts konnte sie trösten, nichts sie mehr erfreuen. Unerträglich der Gedanke an die Zähigkeit des bevorstehenden Tages, an eine weitere Nacht der Abgründe. Wozu noch kämpfen? Sie war verloren.
Und doch war da noch immer die Frage. Warum?
Wie konnte es so weit kommen? Wo war ihr Mut geblieben?
Suche nicht nach Erklärungen, flüsterte der Wind. Lass dir nichts vorgaukeln. Er zieht dich heran, um dich wegzustoßen. Immer wieder macht er das. Du hast ihm vertraut, wurdest weggestoßen, hast ihm wieder vertraut, wurdest wieder weggestoßen, immer wieder mit sanfter Stimme umschmeichelt, immer wieder vertraut, immer wieder verletzt. Dein Vertrauen hat er mit großer Geste weggeschleudert, deine Liebe sinnlos verschwendet. Alles hast du ihm gegeben, bis auf den letzten Tropfen, zuerst mit Leidenschaft, später dann, weil du an ihm festklebtest. Verknotete Gefühle entwirren? Vergiss es. Du hast nichts zu verlieren.
Ihr blieb keine Wahl. Komm, schwarzer Dämon. Leg die Maske ab. Du bist hell und süß. Zeige mir den Weg. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Eine unglaubliche Stille umgab sie. Selbst die Brandung hatte ihr Rauschen eingestellt. Einen Moment lang die friedliche Ruhe genießen, dann losgehen, einen Schritt, einen weiteren und noch einen, bis der Boden weich wurde und nachgab. Dunstschwaden strichen über ihr Haar und zogen an ihr vorbei. Mit leichten Schritten ging sie zwischen Schlingpflanzen, die ihr den Weg frei machten, sobald sie sich näherte. Plötzlich wurde der Nebel so dicht, dass sie nichts mehr sah. Sie blieb stehen. Verschwunden das Grün, selbst ihre Hände und Füße waren nicht mehr zu sehen. Wo war oben und unten? Und was war das? Hatte jemand sie berührt? Sie horchte.
„Du brauchst Hilfe?“
„Ja, ja“, sagte sie eilig.
Doch zu wem gehörte dieses Stimmchen? Erst nach einer Weile des angestrengten Hinsehens erblickte sie eine kleine kugelförmige Gestalt, durch deren transparente Oberfläche es vom Boden her kupfern blinkte.
„Hallo“, sagte das Geschöpf.
„Hallo, kleines Kerlchen. Was tust du hier so mutterseelenallein?“
„Ich habe gewartet.“
„Auf wen?“
„Ich habe gewartet, um dich auf den richtigen Weg zu führen.“
„Wusstest du denn, dass ich hierher komme?“
„Du hast gefunkt.“
„Ach, ja?“
„Du hast mich gerufen, weil du Hilfe brauchst. Allein findest du aus diesem Nebelwald nicht heraus.“
Wie Recht das seltsame Wesen hatte!
„Folge mir“, sagte es und ging voraus, wobei sich herausstellte, dass es sich mit seinen kleinen Füßen erstaunlich schnell vorwärts bewegte. Sie blieb dicht hinter ihm.
Plötzlich war der blinkende Winzling verschwunden. Stattdessen sah sie ein Flimmern, das sich in ein weißes Flackern verwandelte. Eine ungeheure Kraft zog sie mitten hinein in diese Lichtflut. Von tausend und abertausend Blitzen wurde sie überwältigt, die in so schnellem Stakkato auf sie einschossen, dass ihr schwindlig wurde. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden.

[...]

Leseprobe "Das weiße Flackern" aus: Wenn wir von Liebe reden




Donnerstag, 11. April 2013

... kann das bei den Kartäusern sein

"La Grande Chartreuse" © Floriel http://commons.wikimedia.org/wiki/


La Grande Chartreuse
 (Ausflug zum Kartäuserkloster bei Grenoble - Mai 1845) 

Nach einer Übernachtung in Grenoble hatte Malwida Gelegenheit, das Gelübde an den Weltgeist zu bestätigen. Zusammen mit Herrn Ludwig und den beiden Jungen ließ sie sich mit der Kutsche in ein nahe gelegenes Dorf bringen. Von dort aus wagte sie sich auf einem Mautier an den Aufstieg zum Karthäuserkloster. Geführt wurde die Gruppe von einem kundigen Manne. Hätte sie gedacht, was auf sie zukam? Zwischen riesigen Felswänden durchquerten sie eine Schlucht, in deren Tiefe ein reißendes Gewässer tobte. Immer enger wurde der Pfad und immer bedrohlicher der Abgrund. Irgendwann befanden sie sich wohl oberhalb der Vegetationsgrenze, wo nichts mehr zu leben schien. Todestor nannte man den Durchbruch im Felsen, den sie passieren mussten. In dieser schauerlichen Szenerie fühlte sich Malwida sich an Dantes Höllentor erinnert und war dann ganz erstaunt, als sie in ungefähr 2000 Metern Höhe zu Füßen des Bergmassivs eine Ebene in üppigem Grün erreichten. Hier wuchsen prächtige Bäume und Blumen in den schönsten Farben.

Am Eingang der Klosteranlage wurden sie von zwei Laienbrüdern empfangen. Ohne ein Wort zu wechseln, nahm der eine den Bergführer zur Seite und brachte zusammen mit ihm die Maultiere in einen Stall. Der andere Klostermann stand da und schwieg. Die Kutte hing über seinen leicht nach vorne gebeugten Schultern und fiel ihm bis auf die Sandalen. Ein dicker Hornknopf hielt das etwas dünnere Leinenhemd darunter zusammen. Nichts an dieser Kleidung und der Art, wie er sie trug, vermittelte den Eindruck, als würde sie ihn einengen, auch nicht die Kapuze, obwohl sie Hals und Nacken schwer umschloss. Sah so jemand aus, der am Ende eines steinigen Weges die Wahrheit gefunden hatte? Die Wahrheit, nach der zu streben sie gerade einen Tag zuvor auf der steilen, vereisten Passstraße gelobt hatte? Das Hell und Dunkel seines Gesichtes diesseits und jenseits der scharfen Trennlinie über Stirn, Nase und Mund, vermittelten den Eindruck einer unerschütterlichen Gelassenheit. Es war eine andere Art von Gelassenheit, die dieser Mann ausstrahlte. Sie gehörte ebenso hierher wie der gefährliche Pfad zwischen schroffen Felsen und Abgründen, wie das Höllentor, wie die fruchtbare Ebene und der in der Abendsonne leuchtende Felsgipfel.

Es mochte eine Stunde vergangen sein, vielleicht weniger, vielleicht mehr. Der große Schweiger hatte Herrn Ludwig zum Eingangsportal des Klosters gebracht, sie und die Jungen in das kleine Holzhaus geführt, wo er sie mit Brot, Butter und Tee bewirtet hatte. Nun stand er in diesem winzigen Raum ihr gegenüber und nickte, unentwegt lächelnd. Sein Schweigen konnte sie kaum ertragen. Noch keinen Laut hatte sie aus seinem Munde gehört. Selbst sein Blick wirkte stumm. Nicht die kleinste Bewegung der Kutte. Doch was hatte sie erwartet? Befolgte er doch nur die Regel, die ihr allerdings bis vor ein paar Minuten unbekannt gewesen war. Sie durfte das Innere des Klosters nicht betreten. Das durften nur Männer. Ihr war nun dieses winzige Domizil zugewiesen. Es war alles da, was sie für einen Abend und eine Nacht brauchte: Bett, Stuhl und Waschtisch, auch was sie nicht brauchte: Betbank, Kruzifix und Weihwasserbecken. Sie nickte und versuchte den Schweiger dabei anzulächeln. Ein aufgesetztes Lächeln, doch das merkte er nicht. Er hatte aber verstanden, dass sie nun allein sein wollte. Mit einer höflichen Verbeugung drehte er sich um und ging hinaus, wobei jeder Schritt auf knarrenden Dielen und Treppenstufen in dem Holzhaus nachhallte.
Müde vor Enttäuschung ließ sie sich auf den Stuhl fallen. Unten räumte der Laienbruder das Essgeschirr vom Tisch, wusch es ab und stellte Stück für Stück in den Schrank. Das konnte sie nicht sehen, jedoch hören und sich vorstellen. Nach getaner Arbeit verließ er das Haus, schob den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn herum. Dann schlurfte er davon, zu den anderen Klostermännern, die ihr schweigsames Leben ihrem Gott gewidmet hatten. Dort befand sich auch der Besucher für einen Abend und eine Nacht, mit dem zusammen sie die Gebirgstour von Grenoble aus hier hinauf gemacht hatte und der nun dieses Vorrecht genoss.

Malwida zog ihr Skizzenbuch aus der Tasche und legte es sich auf die Knie. Mit den Augen verfolgte sie die Windungen des marmorierten Musters auf der Vorderseite. Dann zeichnete sie die Linien mit dem Finger nach. Das leise Wischgeräusch bei der Berührung mit der rauen Pappe dämpfte die innere Unruhe. Sie begann immer wieder von vorne, während sich langsam ihre Gedanken ordneten. Sie öffnete das Fenster und schob die beiden Flügel beiseite. Hinter den Mauern die Gemeinschaft der Männer und sie hier außerhalb der klösterlichen Festung als stille Beobachterin, allein mit ihrem marmorierten Skizzenbuch, das nun aufgeschlagen vor ihr auf der Fensterbank lag. Weich flossen ihre langen Haare über Schultern und Rücken, als sie das Band löste. Dann zeichnete sie, was der Bildausschnitt auf die große Kartause freigab. In der Mitte das Haus mit dem bogenförmigen Eingangsportal, das sie nicht betreten durfte. Hinter hohen Mauern die sichtbaren Teile von Gebäuden mit Fenstern, Dächern und Türmen.
Als die Dämmerung eintrat, war sie mit ihrem Stift längst hoch oben auf dem Bergmassiv angekommen, bei den unzähligen dunklen Tannen, die sich hoch kämpften und unterhalb des Gipfels in einem langen dunklen Saum endeten. Sie zeichnete jede einzelne. Oberhalb schlängelte sich ein Lichtpfad hinauf auf ein silbern strahlendes Plateau, das sie leichten Fußes erreichte. Als sie über die Fläche schwebte, spürte sie ihre Haare und die Schleppe ihres Gewandes frei im Lufthauch wehen. Ein heller Glockenton, ein weiterer und noch einer setzten die Silberstrahlen in tausend und abertausend Schwingungen. Als die Glocke verklungen war, intonierten Stimmen einen Gesang, der ihr nicht fremd war. Als hätte sie Worte und Melodie immer schon gesungen und würde nie damit aufhören, stimmte sie mit ein: Ich zögere nicht, gehe den einsamen Pfad, den jeder geht, der die Wahrheit sucht.
Als dicke weiße Flocken vom Himmel herabwirbelten, sich auf ihrem Gesicht auflösten und kühle Tropfen auf das dunkle Portal hinunterrollten, klappte sie das Skizzenbuch zu und legte es zur Seite. 

Durch lautes Klopfen und die aufgeregte Stimme des Erziehers wurde sie früh am nächsten Morgen geweckt.

[...]

Leseprobe aus: Wenn wir von Liebe reden



Montag, 8. April 2013

... zum Beispiel in NYC



Oft habe ich mich gefragt, ob es Zufälle gibt. Inzwischen bin ich mir sicher, dass alles, was geschieht, einer unsichtbaren Ordnung folgt. Und jeden Tag sage ich mir, wie sinnvoll es war, trotz eines gewissen Risikos, ich könnte Sarah auf der Zielgeraden des New York City Marathons verpassen, an diesem grauen Morgen des ersten November gegen acht Uhr vom Hotel am Beekman Place in Upper Midtown Manhattan zur 42. Straße zu laufen, mit der U6 vom Grand Central Terminal bis zur City Hall zu fahren, von dort den Fußweg über die Brooklyn Bridge und auf der anderen Seite des East River den Weg durch den Park zu nehmen, in dem die Leute aus der Umgebung morgens ihre Hunde ausführen. Es war auch kein Zufall, dass ich an der U-Bahn-Station Court Street stehen blieb, den Stadtplan auffaltete und überlegte, wie ich zum ersten Treffpunkt gelangen könnte, den ich mit meiner Tochter vereinbart hatte. Hätte sie Aaron jemals kennen gelernt, wenn mich nicht an jenem Sonntag am Eingang eben dieser U-Bahn-Station in Brooklyn ein Mann mit Hund angesprochen hätte?

„Kann ich helfen?“, fragte er.
„Ich bin auf dem Weg zur Marathonstrecke, dem 8-Meilen-Punkt in der vierten Avenue. An welcher Station muss ich aussteigen?“
„Ah, ein Marathon Fan“, sagte der Mann. „Dahin können Sie gut laufen. Sie gehen geradeaus bis zur Atlantic Avenue, biegen links ab, dann ist es ungefähr noch eine Meile.“
„Und wie komme ich später dann möglichst zügig zur Queensboro Bridge? Da will ich nämlich als nächstes an die Strecke.“
„Mit der U-Bahn direkt von dort hinüber nach Manhattan, am besten mit der Expressbahn, sonst schaffen Sie es am Ende nicht rechtzeitig. Ich weiß ja nicht, wie schnell Ihr Favorit ist.“
„Ziemlich flott auf den Beinen. Dann will ich mal los.“

Obwohl ich mich bedankt und einen schönen Tag gewünscht hatte, ging der Mann neben mir und redete weiter.
„Fans an der Strecke sind wichtig. Ich vermute mal, Ihr Mann läuft mit und er freut sich über Ihre Unterstützung.“
„Meine Tochter ist dabei. Sie hat sich einen Wunsch erfüllt, zum Schulabschluss.“
„Oh, ist sie da nicht ein bisschen jung für so einen Lauf?“
„Achtzehn, das Mindestalter für die Teilnahme.“
„Halb so alt wie ich und schon so entschlossen, ein großes Ziel zu erreichen.“
Seltsame Gedanken hatte dieser Mensch. Wie lange wollte er noch neben mir gehen? Sein Hund trippelte schon ungeduldig vor meinen Füßen herum.
„Sorry.“
„Ist okay. Ich hatte auch mal so einen quirligen Vierbeiner. Der sah Ihrem sogar ähnlich.“
„Jetzt haben Sie keinen mehr?“
„Nein.“
„Und Kinder? Nur die Tochter?“
Obwohl seine Fragerei mich nervte, fand ich ihn nicht unsympathisch. Das Lächeln in seinen Augen gefiel mir, so ein ganz helles Lächeln war das, mir irgendwie vertraut. Was sollte ich ihm antworten?
„Nur Sarah“, sagte ich und eigentlich stimmte das ja auch. Wozu schmerzvolle Erinnerungen hochwühlen, die mehr als zwanzig Jahre zurücklagen? Gekämpft, verloren, geweint, neu begonnen, niemals vergessen. Wen interessierte das?
Ich wollte nun schnellstens zu unserem Treffpunkt. Nass und kalt sei es am Start auf Staten Island, hatte Sarah in der SMS geschrieben. Gerade kam eine weitere auf meinem Handy an. Ich zog es aus der Jackentasche und öffnete die Nachricht.
‚Bin in der Startaufstellung. Wir werden jetzt auf die Verrazano-Brücke gebracht. Kann nix mehr schiefgehen. New York, New York…’
Mich beruhigte jetzt vor allem, dass sie endlich in Bewegung kam. Schließlich war sie seit dem frühen Morgen unterwegs und sicherlich total durchgefroren.
„Sarah läuft jetzt los“, sagte ich.
„Ja, klar. Da sehen Sie schon den Turm am Ende der Straße. Dahin müssen Sie.“
„Danke, ich beeile mich.“
„Einen Moment noch“, sagte er. „Ich werde nachher an der Strecke ein paar Fotos für die Zeitung machen. Vielleicht haben Sie Interesse. Hier, nehmen Sie mein Kärtchen.“
Ich steckte es in die Jackentasche.
„Noch etwas! Hätten Sie vielleicht eine Adresse für mich oder noch besser, Ihre Mobilnummer?“
Ein paar Visitenkarten hatte ich noch im Portemonnaie. Ich gab ihm eine.
„Im Beekman Tower Hotel können Sie mich auch erreichen.“
“Das ist in der Nähe der Queensboro Bridge, sehr schöne Gegend, da hab ich gewohnt.“
„Queensboro Bridge ist mein nächster Punkt an der Strecke.“
„Ja, danke und viel Erfolg für Sarah“, sagte er noch und verschwand mit seinem Hund in der Seitenstraße.


Leseprobe "New York, New York" aus Wenn wir von Liebe reden

Freitag, 5. April 2013

... kann das am Langkofel sein


Am Abend dann in dem Haus oben am Berg, in dem wir tags zuvor mit so vielen am Tisch saßen, jetzt nur wir zwei. Spagetti Bolognese hatten wir in die Schüsseln gezaubert, dazu Parmiggiano. Nach dem Essen hörten wir Musik. Meine Lieblingssongs mochte er, ich seine ebenfalls. Wir lachten und tanzten, auseinander zusammen, auseinander zusammen, stundenlang. Dann holte er seine Gitarre hervor. Ein Stück gefiel mir besonders. Ich wollte es noch einmal hören. Er spielte es noch einmal. Immer wieder spielte er diese Melodie. Sie begleitete mich die ganze Nacht lang und am nächsten Morgen war sie immer noch da. Und am Tag darauf, in der nächsten Nacht, die ganze Zeit war sie bei uns. Er und ich und unsere Melodie.
Drei Monate haben wir nun schon diese ungestörte Zweisamkeit, jeden Samstag, jeden Sonntag, viele Abende und Nächte. Zusammen einkaufen, kochen, essen, Musik hören, tanzen, bummeln in Fußgängerzonen, durch Wälder und Parks, meine Hand in seiner Hand, reden über schwarze Löcher und ‚Rosen im Asphalt’.
Unser nächstes gemeinsames Projekt sollte eine Wanderung in unserem Winterparadies sein, jedoch ohne Schnee. Für diesen Sommer war es geplant und sogar schon in den Details vorbereitet. Mit Rucksack und Zelt wollten wir unterwegs sein, den schroffen Langen, seinen kleinen Bruder und die Scharte der Waghalsigen mal aus der Nähe betrachten, durch die steinerne Stadt gehen und dann weiter, Berge und Täler durchwandern, zu Fuß das Massiv umrunden. Unser Sommerprojekt nennen wir das, nannten wir das, hatten es uns so schön vorgestellt. Und nun knallst du in unser Leben, bist plötzlich da und bleibst auch da, hast dich schon eingenistet, als sei das ganz selbstverständlich. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass du kommst. Vierzig Jahre lang hat mich nichts so aus der Bahn geworfen. Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen, zu unruhig war ich, viel zu unruhig. Wie soll es weitergehen? Mit dir dabei ist nichts mehr wie vorher. Tag und Nacht bist du nun dabei. Nie mehr bin ich allein. Nie mehr sind wir zu zweit, er und ich. Wie wird er reagieren, wenn er es erfährt? Mein lieber Träumer. So jung und unverbraucht. Bisher hat ihm das Leben noch keine solche Verantwortung aufgebürdet. Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn er plötzlich so gefordert wird wie mit dir. Er soll sich nicht verändern, soll immer der liebe Träumer bleiben. Doch ich befürchte fast, dass das nicht geht. Aus der Traum. Was wird er sagen? Über die Möglichkeit, du könntest dazukommen, haben wir nie gesprochen. Vielleicht hätten wir es noch getan. Irgendwann wäre es vielleicht ein Thema gewesen. Und nun bist du schon da. Konntest nicht mehr warten. Ich habe Angst, dass sein helles Gesicht sich verfinstert und dass jetzt alles vorbei ist.
Vorhin hat er angerufen. Er war so lieb, kommt heute schon etwas früher, hat es extra möglich gemacht, freut sich auf mich. Am Telefon konnte ich es ihm nicht sagen. Es ging einfach nicht. In seine Fröhlichkeit wollte ich nicht hineinplatzen mit dieser Botschaft. Ich weiß ja selbst erst seit gestern, dass du da bist. Was ich empfand, als ich es erfuhr? Das sollst du auf jeden Fall wissen. Mein Herz hüpfte, als wollte es aus der Brust springen. Und wenn ich in mich hineinhorche, ist es heute immer noch so. Ja, mein Bauch sagt etwas anderes als mein Kopf. Ein tolles warmes Gefühl habe ich, spüre intensiv, dass du da bist. Angenehm süß die leichte Übelkeit. Ein paar Millimeter groß bist du erst, doch dein Herz schlägt schon. Ein gerade erst begonnenes Leben, ein ganz kleines Leben, ein winziges Leben. Dein Leben. Dein Herzschlag. Was meinst du? Ich soll noch mal überlegen, warum die Frage: Du oder er? Das ist ja eine ganz neue Sichtweise. Gar kein Dilemma? Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Recht hast du. Warum eigentlich diese dumme Frage? Zumal sie ja für mich ohnehin längst beantwortet wäre, sollte sie sich denn so stellen, was ja gar nicht der Fall ist. Du oder er? Was soll überhaupt das ‚oder’? Ich werde es gegen ein ‚und’ austauschen. Du und er, muss es heißen. Noch besser: Du und er und ich.
Je mehr ich nun darüber nachdenke, desto mehr gewöhne ich mich an den Gedanken. Du und er und ich. Wir sind jetzt drei. Ja, das werde ich ihm sagen. Und er muss wissen, dass jetzt alles ein bisschen anders wird, vor allem, dass ich höllisch aufpassen muss auf dich, damit dir nichts passiert. Das ist wichtiger als alles andere im Moment. Nichts werde ich tun, was dich in Gefahr bringen könnte. Deshalb werden wir das Sommerprojekt streichen müssen. Eine Wanderung in den Bergen wäre nichts für dich, viel zu gefährlich. Du musst erst noch ganz doll wachsen, bis du groß und stark genug bist für diese Welt. Im nächsten Sommer nehmen wir dich dann mit zum felsigen Langen. Der blinzelt seinem kleinen Bruder zu, ohne dass es jemand sieht, und die beiden Unentwegten amüsieren sich still. Dein Vater hat anstatt Rucksack dann dich in der Trage auf dem Rücken und zu dritt wandern wir ein kleines Stück entlang der Scharte der Waghalsigen und durch die steinerne Stadt.


Leseprobe "Neues Projekt" aus Wenn wir von Liebe reden