Montag, 8. April 2013

... zum Beispiel in NYC



Oft habe ich mich gefragt, ob es Zufälle gibt. Inzwischen bin ich mir sicher, dass alles, was geschieht, einer unsichtbaren Ordnung folgt. Und jeden Tag sage ich mir, wie sinnvoll es war, trotz eines gewissen Risikos, ich könnte Sarah auf der Zielgeraden des New York City Marathons verpassen, an diesem grauen Morgen des ersten November gegen acht Uhr vom Hotel am Beekman Place in Upper Midtown Manhattan zur 42. Straße zu laufen, mit der U6 vom Grand Central Terminal bis zur City Hall zu fahren, von dort den Fußweg über die Brooklyn Bridge und auf der anderen Seite des East River den Weg durch den Park zu nehmen, in dem die Leute aus der Umgebung morgens ihre Hunde ausführen. Es war auch kein Zufall, dass ich an der U-Bahn-Station Court Street stehen blieb, den Stadtplan auffaltete und überlegte, wie ich zum ersten Treffpunkt gelangen könnte, den ich mit meiner Tochter vereinbart hatte. Hätte sie Aaron jemals kennen gelernt, wenn mich nicht an jenem Sonntag am Eingang eben dieser U-Bahn-Station in Brooklyn ein Mann mit Hund angesprochen hätte?

„Kann ich helfen?“, fragte er.
„Ich bin auf dem Weg zur Marathonstrecke, dem 8-Meilen-Punkt in der vierten Avenue. An welcher Station muss ich aussteigen?“
„Ah, ein Marathon Fan“, sagte der Mann. „Dahin können Sie gut laufen. Sie gehen geradeaus bis zur Atlantic Avenue, biegen links ab, dann ist es ungefähr noch eine Meile.“
„Und wie komme ich später dann möglichst zügig zur Queensboro Bridge? Da will ich nämlich als nächstes an die Strecke.“
„Mit der U-Bahn direkt von dort hinüber nach Manhattan, am besten mit der Expressbahn, sonst schaffen Sie es am Ende nicht rechtzeitig. Ich weiß ja nicht, wie schnell Ihr Favorit ist.“
„Ziemlich flott auf den Beinen. Dann will ich mal los.“

Obwohl ich mich bedankt und einen schönen Tag gewünscht hatte, ging der Mann neben mir und redete weiter.
„Fans an der Strecke sind wichtig. Ich vermute mal, Ihr Mann läuft mit und er freut sich über Ihre Unterstützung.“
„Meine Tochter ist dabei. Sie hat sich einen Wunsch erfüllt, zum Schulabschluss.“
„Oh, ist sie da nicht ein bisschen jung für so einen Lauf?“
„Achtzehn, das Mindestalter für die Teilnahme.“
„Halb so alt wie ich und schon so entschlossen, ein großes Ziel zu erreichen.“
Seltsame Gedanken hatte dieser Mensch. Wie lange wollte er noch neben mir gehen? Sein Hund trippelte schon ungeduldig vor meinen Füßen herum.
„Sorry.“
„Ist okay. Ich hatte auch mal so einen quirligen Vierbeiner. Der sah Ihrem sogar ähnlich.“
„Jetzt haben Sie keinen mehr?“
„Nein.“
„Und Kinder? Nur die Tochter?“
Obwohl seine Fragerei mich nervte, fand ich ihn nicht unsympathisch. Das Lächeln in seinen Augen gefiel mir, so ein ganz helles Lächeln war das, mir irgendwie vertraut. Was sollte ich ihm antworten?
„Nur Sarah“, sagte ich und eigentlich stimmte das ja auch. Wozu schmerzvolle Erinnerungen hochwühlen, die mehr als zwanzig Jahre zurücklagen? Gekämpft, verloren, geweint, neu begonnen, niemals vergessen. Wen interessierte das?
Ich wollte nun schnellstens zu unserem Treffpunkt. Nass und kalt sei es am Start auf Staten Island, hatte Sarah in der SMS geschrieben. Gerade kam eine weitere auf meinem Handy an. Ich zog es aus der Jackentasche und öffnete die Nachricht.
‚Bin in der Startaufstellung. Wir werden jetzt auf die Verrazano-Brücke gebracht. Kann nix mehr schiefgehen. New York, New York…’
Mich beruhigte jetzt vor allem, dass sie endlich in Bewegung kam. Schließlich war sie seit dem frühen Morgen unterwegs und sicherlich total durchgefroren.
„Sarah läuft jetzt los“, sagte ich.
„Ja, klar. Da sehen Sie schon den Turm am Ende der Straße. Dahin müssen Sie.“
„Danke, ich beeile mich.“
„Einen Moment noch“, sagte er. „Ich werde nachher an der Strecke ein paar Fotos für die Zeitung machen. Vielleicht haben Sie Interesse. Hier, nehmen Sie mein Kärtchen.“
Ich steckte es in die Jackentasche.
„Noch etwas! Hätten Sie vielleicht eine Adresse für mich oder noch besser, Ihre Mobilnummer?“
Ein paar Visitenkarten hatte ich noch im Portemonnaie. Ich gab ihm eine.
„Im Beekman Tower Hotel können Sie mich auch erreichen.“
“Das ist in der Nähe der Queensboro Bridge, sehr schöne Gegend, da hab ich gewohnt.“
„Queensboro Bridge ist mein nächster Punkt an der Strecke.“
„Ja, danke und viel Erfolg für Sarah“, sagte er noch und verschwand mit seinem Hund in der Seitenstraße.


Leseprobe "New York, New York" aus Wenn wir von Liebe reden

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