Montag, 6. Mai 2013

... und von der Rose



Auf dem Weg zu dir singe ich im Kopf das Kinderlied. Dabei sehe ich dich. Die Fröhlichkeit in deinem Gesicht. Dein Lachen. So viel Hunger nach Leben. Wie glücklich du aussiehst. So jung. Jung und hübsch. Die Zuversicht in deinen Augen, wenn du singst. Für mich. Ja, ich weiß, ich weiß es. Hab’s schon längst gesehen. Beeilen muss ich mich. Mach ich ja, bin schon an der Ecke.
Du siehst mich. Freust dich.
Ach du.
Heiß ist es heute. Erbarmungslos brennt die Sonne auf meine Rose. Ich bin ja gleich bei dir und bei meiner Rose, werde durch das Tor gehen und sofort nach links schauen, zu dir. Das mache ich immer. Heute werde ich erst zum Brunnen gehen, dann zu dir.
Verstehst du doch.
Ja klar. Bei dieser Hitze werde ich viele Male zum Brunnen gehen, immer hin und her mit der Gießkanne. Schau, ich hab uns eine gelbe gekauft, damit ich sie nicht verwechsle zwischen den grünen am Brunnen. Außerdem finde ich diese gelbe viel schöner. Du auch, das weiß ich. Sie gefällt dir. Und sie passt besser zu meiner Rose. Schon allein, weil sie so außergewöhnlich ist. Außergewöhnlich wie du. Einzigartig wie du und wie sie, meine Rose. Dass ich so oft zwischen dir und dem Brunnen hin und her laufen muss, macht mir gar nichts aus. Meine Rose soll nicht dürsten. Sie soll ihre strahlende Farbe behalten und die herrlich glänzenden Blätter. Vor allem ihr Lachen und ihre Fröhlichkeit. Wir wollen doch noch viel Freude an ihr haben.
Du siehst mich schon am Tor.
Ich gehe hindurch, geradeaus zum Brunnen. Du hättest die rosa Farbe gewählt, ich weiß. Rosa fand ich auch immer schön, früher. Doch jetzt gefällt mir das Rot besser.
Warum rot, fragst du, warum so rot, warum so dunkelrot?
Ich warte, bis der Schmerz ein wenig nachlässt. Das dauert. Ich kenne das schon. Es dauert immer so lange, bis die Stille kommt, die jede Bewegung erstarren lässt und jeden Laut erstickt. Knallrote Stille. Die mir die Tränen in die Augen treibt. Die mir fast den Atem nimmt. Eine Weile, bis ich einen kleinen Schritt mache, stehen bleibe, lange stehen bleibe, bis ich dann langsam weitergehe. Erst zum Brunnen und dann zu dir und zu meiner Rose. So rot.
Du weißt, was das bedeutet, das Rot. Diese fünf Buchstaben. Demnächst bringe ich auch das weiße Herz mit den fünf Buchstaben wieder mit.
Warum ich es weggenommen hatte, obwohl es dein Herz ist, weil ich es dir doch geschenkt habe, fragst du.
Das hab ich dir doch erklärt. Hier draußen ist es zu kalt im Winter. Ich will nicht, dass es in frostigen Nächten zerbricht. Dann hättest du auch nichts mehr davon. Deshalb habe ich es an einem warmen Platz gut geschützt aufbewahrt. Ich werde es wieder mitbringen und an den Sockel lehnen, neben meine Rose, nein, ein bisschen dahinter, weil die Rose, anders als das Herz, zum Sockel etwas Abstand braucht. Ja, ich arrangiere es schön aufrecht am Sockel, den goldenen Schriftzug ein wenig zum Himmel gerichtet, damit du immer sehen kannst, was da geschrieben steht. Fünf Buchstaben in Gold auf Weiß. Damit du immer erinnert wirst.
Weiß ich doch, sagst du. Wozu brauchst du die fünf Buchstaben auf Stein? Dich muss nichts erinnern, weil du es weißt. Weil sie immer da ist? Immer und überall ist sie da.
Schon richtig. Ich weiß das ja auch. Sie ist immer da, wie eine Brücke zwischen deiner Welt und meiner Welt. Und wenn ich es mir recht überlege, brauche ich das steinerne Herz mit den fünf Buchstaben auch nicht mehr. Ich habe doch dein Lied. Und dein Lachen. Und meine Rose.

Leseprobe aus ►  Wenn wir von Liebe reden

"Da ist ein Land der Lebenden 
und da ist ein Land der Toten.
Die Brücke zwischen ihnen 
ist die Liebe ..."

(Thornton Wilder: Die Brücke von San Luis Rey)