Sonntag, 18. August 2013

...und von der UnSichtBar


Mister Fitch

[...]
Ich tastete vorsichtig entlang des Tellers über Messer. Gabel und Serviette, wie der gute Geist es mir geraten hatte, fand das Suppentöpfchen mittig hinter dem Teller, fasste die beiden Henkel, führte es ohne zu Kleckern an den Mund und schlürfte genüsslich. Wunderbar. Hier sah mich ja niemand. Dann stellte ich es vorsichtig an seinen Platz zurück, damit der Geist der Finsternis es nachher abräumen konnte. Jetzt krabbelten meine Finger zum Weinglas hinter dem Teller rechts. Ich einen Schluck aus dem Glas und spürte Wärme sich wohlig in meinem Körper ausbreiten. Ein viel versprechendes Menü hatte ich an der Rezeption bestellt, die weiteren Speisen würde man mir hoffentlich nicht zu schnell hintereinander servieren. Nach einem anstrengenden Arbeitstag hatte ich dieses Nurfürmichsein mehr als verdient. Der Trubel in den Messehallen, die vielen Gesichter, Gespräche, das ständige Lächeln, das sich im Laufe des Tages in meinem Gesicht festgesetzt hatte, als könnte es niemals enden. Ich schob die Mundwinkel nach unten, dann in die Breite, zog den Mund quer zu einem breiten Grinsen, klimperte mit den Augen und bewegte die Brauen hoch und runter. Dieses Grimassenspiel machte ich eine ganze Weile. Wie gut das tat. Einfach nicht mehr funktionieren.
Der zweite Gang wurde hinter den Teller gestellt. Das Tasten danach war schon fast ein bisschen Routine. Zucchini, Gurken, Paprika und Karotten, mundgerecht in Streifen. Das Besteck ließ ich beiseite, griff zu und steckte die vitaminreichen knackigen Sticks nacheinander in den Mund.
Doch in dem Moment war es auch schon vorbei mit der Entspannung.
„Vergiss nicht den Dipp!“, ermahnte ein Gegenüber am Tisch.
War das nicht wie verhext? Einfach so tun, als hätte ich nichts gehört. Warum sollte denn ausgerechnet ich gemeint sein? Saßen doch genug Leute um mich herum und quatschten nach Herzenslust, viel lauter als in jedem anderen Restaurant. Doch der Typ war hartnäckig.
„Mit Avocado“, meinte er.
„Ja, ja, ja! Bereits bemerkt.“
„Ausschließlich natürliche Zutaten, Knoblauch ist auch drin.“
Hätte ich auch ohne seinen Hinweis gerochen. Apropos riechen. Mein Gegenüber roch verdammt gut, ganz eindeutig Fierce, war wohl auch Shoppen auf der Fifth.
„Schmeckt doch gleich besser mit Dipp, das musst du zugeben. Was bist du für eine?“
„Viel unterwegs“, antwortete ich. „Heute mal in Köln. Touristikmesse. Vielen Leuten vieles erzählt. Den ganzen Tag über gelächelt. Alles gegeben. Ausgepowert. Nur noch Ruhe ist angesagt.“
„Da bist du hier richtig", meinte der Schlaumeier. "Hier kannst du dich mal hängen lassen."'
Die Seele baumeln lassen, meinte er wohl. Ich ließ den Kopf baumeln. Doch Mister Fitch kannte keine Gnade. 
[...]

Hatte er mich schon berührt? Warum musste er auch einen so verdammt guten Duft verströmen? New York. Abercrombie & Fitch. Shoppingerlebnis der besonderen Art. Schlange stehen auf der Fifth, endlich herangewunken werden, vorbeihetzen an zwei durchgestylten Hereinlassern und dem gut gebauten Jüngling mit nacktem Oberkörper im Eingang, hinein in die abgedunkelten, discobeatbeschallten, parfumduftenden Gänge, die sich über drei durch schwach beleuchtete Treppen erreichbare nicht allzu große Ebenen erstrecken und sich im Gedränge zwischen Tischen und Warenregalen hindurchschieben, bis man wieder in der Schlange steht, diesmal an der Kasse, um mit der schönsten Papiertragetasche der Welt, aus der Polos, Kapuzenpullis, Hemden und T-Shirts duften wie Mister Fitch, hinauszugehen auf die Fifth Avenue, wo sie noch immer Schlange stehen, um hineinzukommen in dieses Shoppingparadies.
Die Wörter flogen über dem Tisch hin und her. Jimi Hendrix.
Janis Joplin. Cat Stevens. Whitney Houston, Robbie Williams, Silbermond und Jan Delay. Udo Lindenberg beim Echo. Luxuslärm in der Batschkapp. Auftritt in Berlin. Muss ich demnächst wieder hin. Volles Haus. 
[...]

Leseprobe "Mister Fitch" aus 

Wenn wir von Liebe reden (Kindle eBook)
Wenn wir von Liebe reden (Taschenbuch)

Montag, 12. August 2013

...und vom entsorgten Vater



Am Strand

Graue Wolken zogen schnell, verdeckten den Mond und gaben ihn wieder frei. Er hielt es drinnen nicht mehr aus, ging hinaus an den Strand und lief am Wasser entlang. Das aufgewühlte Meer konnte das Brodeln in seinem Innern nicht übertönen.
Diese falsche Schlange. Alles hatte sie kaputt gemacht. Sein Leben zerstört. Weggeschmissen wie einen alten Fußabtreter. Ausgetauscht.
Ein Mann mit Hund kam ihm in der Dunkelheit entgegen. 
Feinde, überall Feinde!
Kalt war es hier. Woher kam die Kälte?
Blonde Haare vor ihm. Weiße Turnschuhe. Eine Joggerin. Sie bemerkte ihn nicht. Er lief hinter ihr her.
Ich krieg dich, du verdammtes Miststück. Jürgen heißt der also. Nimmt der dir nicht die Luft zum Atmen, du Schlampe? Wie macht er das? Kann er dich besser ficken, du Nutte? So ist das also. Und was war auf Sylt? Als ich die Kinder nicht sehen durfte? Meinen Urlaub verschieben musste? Da war Jürgen doch auch dabei. Familie Sonnenschein auf Sylt, schöne Idylle. Und dieses Spielchen soll ich finanzieren, mit meinem Geld? Die Tour werde ich euch vermiesen. Gründlich! Er holte die Frau ein, machte einen Sprung und packte zu. Sie fielen in den Sand. Robert umklammerte sie. Doch sie war stark, drehte sich um und riss an seinen Haaren. Er packte ihre Arme und presste ihren Körper in den nassen Sand. Eine Welle zog ihn mit der Frau ins Wasser. Sie drückte ihn von sich. Er versuchte sie festzuhalten und ihr Gesicht unter Wasser zu tauchen. Sie schlug nach ihm, trat ihm kräftig zwischen die Beine und konnte sich losreißen. Den Schmerz spürte er kaum. Er kämpfte sich aus der Brandung auf den Sand und lief hinter ihr her. Doch sie war schon zu weit weg. In das Tosen hinein brüllte er ihr nach. „Lauf nur weiter mit deinen lächerlich weißen Turnschuhen, du mieses Stück. Das nützt dir gar nichts. Ich krieg dich doch.“

Leseprobe aus Wenn wir von Liebe reden


Sonntag, 11. August 2013

...und vom Wandern auf der 666





Wir befanden uns auf einem wahnsinnig schmalen Pfad entlang einer Felswand, als Lisa sich plötzlich umdrehte, kreidebleich, nach meiner Hand griff und versuchte, sich an mir festzuhalten. „Hilf mir, Martin, ich kann nicht weiter.“
„Bleib ganz ruhig, bitte. Kopf hoch und geradeaus schauen.“
Saugefährlich war die Situation. Da stand ich nun mit Lisas zitternder Hand in meiner und hatte plötzlich selbst Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Links ging es fast senkrecht hinunter und rechts gab auch keinen Halt. Ich machte das, was ich ihr geraten hatte, schaute nach vorne.
„Pass auf, Lisa. Wenn ich jetzt deine Hand loslasse, gehst du ganz vorsichtig einen Schritt, okay?“
„Kann ich doch nicht.“
„Kannst du, mach nun.“
„Hilfe“, schluchzte sie und fing richtig an zu heulen.
„Jetzt reicht’s“, brüllte ich. „Sollen wir beide in den Abgrund stürzen? Geh! Sofort!“
Ich atmete auf, als sie meine Hand losließ und ein Schrittchen wagte.
Was war nur mit ihr los? Niemals hätte ich mit derartigen Schwierigkeiten gerechnet, als ich diese Tour mit ihr plante. Beim Skifahren war ihr kein Berg zu hoch und kein Hang zu steil. Was war denn im Sommer anders?
Gottlob war diese Felsumrundung irgendwann zu Ende und Lisa bekam ihre Panik in den Griff. Wir mussten noch einen Gebirgsbach überqueren, indem wir von Stein zu Stein sprangen, und ein ziemlich ausgedehntes Geröllfeld mit einigermaßen erträglichem Gefälle. Immerhin kamen wir mit heilen Knochen oben am See an, unserem Übernachtungsziel. Die Hochalm hatten wir ganz für uns alleine. Schweigend lagen wir im Gras zu Füßen des Felsmassivs, das wir in zwei Tagen umwandern wollten. Zunächst stand die Sonne noch über den beiden Gipfelzacken. Doch als sie plötzlich hinter dem Berg verschwand, lag unser schönes Plätzchen im Schatten. Es wurde sofort kühl und wir bauten unser kleines Zelt auf. Lisa hatte sich nach dem Aufstieg erstaunlich schnell erholt und half mir.
„Mach es dir schon mal drinnen bequem. Ich hole Wasser und dann gibt es Tee“, sagte ich, nahm meine Feldflasche und ging los. Nach Informationen im Wanderführer sprudelte aus den Felsen eine Quelle in den See. Es war ein Stückchen zu laufen, doch ich fand keine Wasserstelle, auch nicht, als ich über Gesteinsbrocken ein Stück nach oben kletterte. Ich horchte.  Da war auch kein Plätschern zu hören. Einige Meter über mir begann schon der Gletscher und ich entdeckte den Eingang zu einer Höhle. Ein weißes Gebilde hing von der Decke herunter, vielleicht ein Eiszapfen, doch konnte ich das aus der Entfernung nicht genau erkennen. Jedenfalls war das wohl eine der Eishöhlen, von denen der Mann in der Dorfkneipe erzählt hatte, in der wir den Abend vorher verbracht hatten. Eine wahre Horrorstory übrigens. Die Quelle fand ich jedenfalls nicht, hörte auch kein Plätschergeräusch. Seltsam war das schon, denn eigentlich müsste die in der Nähe sein.  Doch was sprach dagegen, wenn ich glasklares Wasser aus dem See schöpfte?
Mit gefüllter Feldflasche ging ich zurück zum Zelt, blieb davor stehen und schaute mich noch einmal um. Die Felsspitze war jetzt in Dunst eingehüllt, der Mond als milchiger Fleck zu erahnen. Es begann leicht zu schneien. Ja, in diesen Höhen war wettermäßig alles möglich. In kürzester Zeit legte sich ein weißer Schleier auf Zelt und Umgebung.
„Bist du es, Martin?“
„Ja.“
„Hast du die Quelle gefunden?“
„Ja, ja. Sie war weiter entfernt, als ich dachte.“
Ich musste ihr ja nicht alles erzählen, nach Diskussionen war mir nämlich nicht der Sinn. Das Wasser erhitzte ich draußen auf unserem kleinen Campingkocher. Das dauerte ein wenig.
„Versuch schon mal zwei Teebeutel in der Vortasche meines Rucksacks zu finden und ein paar Zuckerstücke“, forderte ich meine Begleiterin auf.
Dann balancierte ich den Topf mit dem kochenden Wasser durch die enge Öffnung und kroch vorsichtig hinein. Schön warm war es da. Wir füllten unsere Becher. Dann saßen wir nebeneinander im Zelt, wärmten uns die Hände, schlürften den süßen Tee und sahen durch den Zelteingang dicke Schneeflocken in den See schweben. Richtig schön sah das aus.
„Wenn ich mir überlege, es könnte stimmen, was der Mann unten in der Kneipe erzählt hat.“
„Ach, Lisa, lass es doch. Kannst du nicht einfach mal Ruhe geben? Auf Eiertänze hab ich nun heute wirklich keinen Bock mehr. Wir sind jetzt hier, haben einen wunderbaren Blick auf den See, dazu noch den Segen von Frau Holle. Und morgen ist ein neuer Tag. Ein bisschen essen wollen wir auch, und zwar ohne die Horrorvisionen dieser Dorfschelme. In meinem Vorrat hab ich noch feine Sachen. Hast du Hunger?“
„Klitzekleinen.“
Ich zog den Rucksack heran und kramte nach Essbarem.
„Hey, schau mal, was ich hier habe.“
„Ölsardinen, wie köstlich“, meinte sie. „Sonst mag ich sie gar nicht, aber hier ist sowieso alles anders.“
„Ohne Haut und ohne Gräten. Und was meinst du, was es dazu gibt?“
Ich kramte weiter und zog eine Packung Knäckebrot heraus.
„Voilà, wenn das keine Delikatessen sind!“
Dann holte ich mein Messer aus der Hosentasche, öffnete die Dose und gab sie ihr. Sie angelte sich mit der Gabel ihres nagelneuen Campingbestecks ein Fischchen, legte es auf eine Knäckebrotscheibe und weg war es.
„Jetzt du.“ Dose, Knäckebrot und Gabel reichte sie weiter.
„Klar, immer abwechselnd, bis alles ratzeputz weg ist. Und zum Dessert gibt’s für jeden einen Schokoriegel. Wenn das kein köstliches Mahl ist!“
„Martin“, schrie sie plötzlich auf, „hast du es gesehen?“
„Was denn?“
„Ein weißer Schatten“, kreischte sie, „schneeweiß, ganz dicht an unserem Zelt. Und das Flattern. So laut. Ganz nah.“
„Eine Fledermaus. In der Dunkelheit jagen sie.“
„Weiße Fledermäuse jagen nur tagsüber.“
Woher wollte sie das denn wissen? Klar jagten die auch nachts, wie alle Fledermäuse. Ungewöhnlich war eher, dass diese hier oberhalb der Baumgrenze umherschwirrte, wo doch ihre Heimat in den Regenwäldern von Honduras war. Möglich jedoch, dass es auch eine Art gab, die sich in Eis und Schnee wohl fühlte.
„Nicht alle“, sagte ich und damit gab sie sich zufrieden.
„Bei den Mühlreuters ist nichts mehr so, wie es war“, begann sie nach einer Weile.
„Diese Mühlreuters kenne ich nicht, du auch nicht und ich will sie auch nicht kennenlernen. Gibt’s denn nichts Besseres zu reden? Es schneit, wir sitzen im Trockenen und haben einen schönen Blick auf einen unvergleichlichen Gebirgssee.“
„Das Leben der Familie ist zerstört, seitdem Vanessa verschwunden ist.“
„Wer weiß, warum sie abgehauen ist. Für ein junges Mädchen, das dazu noch hübsch ist, gibt es reichlich Gründe, so ein Bergnest am Ende des Tales zu verlassen.“
„Hast du nicht gehört, was sie an der Theke noch erzählt haben?“
„Was interessiert mich das dumme Geschwätz dieser Almöhis?“
„Einer hatte in jener Nacht über Mühlreuters Haus ein weißes Flugwesen gesehen.“
„Papperlapapp.“
„Da war es wieder“, kreischte sie, sprang auf, kniete vor ihrem Rucksack und begann, ihre Sachen einzupacken.
„Was hast du vor?“
„Ich halte das hier nicht aus.“
„Beruhige dich, es ist alles in Ordnung.“
„Hier kann ich auf keinen Fall bleiben.“
„Und wo sollen wir hin? Den Abstieg können wir jetzt nicht machen. Lebensgefährlich ist das mitten in der Nacht.“
„Egal wie, ich gehe hinunter.“
„Und was war heute Nachmittag? Alles vergessen? Geröllfeld? Felswände? Abgrund?“
Sie schob ihren Rucksack in die Ecke und kroch wieder neben mich.
„Guck wenigstens draußen nach, was das war.“
Große Lust hatte ich nicht, aber so gab sie ja auch keine Ruhe.

Es schneite nicht mehr. Die Wolken waren weggezogen und der Mond beleuchtete von seinem Platz über dem Felsmassiv die Alm, schönes bläuliches Licht auf dem Schnee. Ziemlich groß war er und kreisrund. Ich schlich um unser Zelt herum, konnte aber zunächst nichts entdecken. Fußspuren waren da. Ich erkannte das Profil meiner Wanderschuhe. Als ich zu den zwei Felsen hinauf schaute, kam mir doch nun auch unwillkürlich die Story von den schaurigen Gestalten in Eisgrotten in den Sinn. Kein Wunder, dass die Leute in den Bergen solche Geschichten erfanden und am Ende sogar glaubten, sie wären Realität. Hatten sie doch tagtäglich dieses bizarre Felsmassiv vor Augen. Und das sah nicht immer gleich aus, sondern änderte seine Gestalt stündlich, je nach Sonnenstand, Regen, Schneefall, Nebel und vor allem bei Vollmond. Da konnte schon mal die Fantasie mit einem durchgehen und das schönste Gebirgslatein in den Kopf kommen.

Nun packte mich die Neugier. Ich wollte mir die Höhle da oben genauer ansehen. Wann hatte ich schon mal die Gelegenheit, weiße Fledermäuse zu betrachten? Über die Felsbrocken kletterte ich hinauf. Am Eingang angekommen, sah ich schon ein wunderbares Exemplar an der Decke hängen. Schneeweiß und viel größer als ich es mir vorgestellt hatte. Das musste ich mir aus der Nähe ansehen. Ich ging hinein und betrachtete das Tier. Wo waren denn die Ohren? Vom Foto wusste ich, dass sie kopfunter baumelten wie die schwarzen. Vorsichtig berührte ich es mit dem Finger. In dem Moment wurde ich von einem eisigen Sog erfasst und beinahe von den Beinen gerissen. Erschrocken fuhr ich herum. Eine schneeweiße Mähne schleuderte mir ins Gesicht und stechend blaue Augen bohrten sich in meinen Hals. Mit eisigen Klauen packte mich das Ungeheuer. Ich stemmte beide Arme gegen seinen Körper, griff jedoch ins Leere und taumelte gegen die Wand. Verzweifelt zog ich mein Messer aus der Hosentasche, klappte es blitzschnell auf und als ich es erhob, wich mein Gegner zurück. Jetzt würde ich ihn erledigen. Aber o Schreck! Die Waffe glitt mir aus der Hand. Ich wollte sie aufheben, rutschte aus und stürzte zu Boden.
Ein lang anhaltender Schrei brachte mir das Bewusstsein zurück. Woher kam der? Lisa! Was war ihr passiert? Ich stützte mich am Felsen ab, um auf die Beine zu kommen. Wo war das weiße Ungeheuer? Nur stille Winterlandschaft, wohin ich blickte. Friedlich lag das Zelt am See im blausilbernen Licht. Dann war ja wohl doch alles in Ordnung. Wie lange war ich denn weg gewesen? Lisa würde schon warten. Ich ging los. Da kam sie mir schon entgegen. Erst nur schwach zu erkennen, dann immer deutlicher. In weißem Gewand schwebte sie auf mich zu. Wunderschön sah sie aus mit ihren wehenden Haaren, ihr Mund so rot. Sie kam näher, die Arme mir zugewandt. Ich fasste ihre Hände. So kalt. Ihr blutroter Mund lächelte mich an. Sie zog mich an sich. Ihre Zähne glitzerten silbern. Immer näher kamen die. Mein Messer! Wo war es? Ich riss mich los, lief zurück, sah schon die Klinge im Mondenschein blitzen, schnappte es, schnellte herum und hielt es der Frau entgegen. Da war sie verschwunden.

„Du warst lange weg, Martin. Ich war schon eingeschlafen“, sagte Lisa, als ich in das Zelt kroch. „Wie kalt du bist. Komm zu mir in den Schlafsack.“
Das war eine gute Idee.
„Hast du draußen etwas gefunden?“
„Gefunden, entdeckt, herausgefunden, wie du willst“, sagte ich. „Doch morgen ist auch noch ein Tag. Jetzt bin ich hundemüde und muss erst mal eine Runde schlafen.“
Das würde mir in der kuscheligen Enge auch sofort gelingen. Wenn die Sonne aufging und das weiße Ungetüm wieder in seiner Höhle baumelte, würde ich die Quelle finden, Teewasser holen und Lisa beim Frühstück mit leckerem Cornedbeef und Knäckebrot von den schaurigen Bestien erzählen, die vor vielen Jahren in Ungarn vertrieben worden waren. Hier oben hatten sie sich eingenistet und waren Jahrhunderte lang eingefroren. Durch die Erderwärmung tauten sie nun auf und trieben ihr Unwesen. Eines von denen hatte Mühlreuters Tochter das Leben ausgesaugt. Seitdem irrte Vanessa in Vollmondnächten im Gebirge umher.



Samstag, 10. August 2013

... und vom Sommer






Neues Projekt


Hat mich jemals etwas so durcheinander gebracht wie die Botschaft, dass du da bist? Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ratlos, vierzig Jahre alt und ratlos. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Du oder er? Eine Frage, auf die ich gut verzichten könnte, die vielleicht völlig abwegig ist und  längst beantwortet wäre für mich, sollte sie sich denn stellen. Und dennoch fühle ich mich jetzt in der Situation, dass ich mich das fragen muss, ohne es zu wollen, ohne es jetzt zu wollen, schicksalhaft mit dem Dilemma konfrontiert.
Du oder er?
Es war ein ausgesprochener Glückstag, als ich ihm begegnete, ein unerwarteter Lichtblick, nachdem das Thema ‚Männer’ für mich längst abgehakt war. Männer! Ich war nämlich davon überzeugt, sie nützten nicht, sondern schadeten mir nur. Kurz gesagt, ich brauchte sie nicht und war überzeugt, es käme keiner mehr an mich heran. Das klingt hart, doch nach meinen Erfahrungen musste ich das so sehen. Männer in meiner Nähe bedeuteten jedes Mal eine Katastrophe. Misstrauen, Kampf, Verletzungen. Immer das gleiche Theater, wie verhext.
Macht gar nichts, wenn du das noch nicht verstehst. Wie solltest du auch?
Jedenfalls hatte ich irgendwann mein Motto klar: ‚Keine Männer, keine Tränen’.
Und dann kam er, wie ein Geschenk des Zufalls, und mit ihm die Erleuchtung, dass ich mich wohl geirrt hatte. Es gab Ausnahmen, zumindest diese eine, das musste ich mir eingestehen. Denn mit ihm erfuhr ich, dass es auch anders ging, mit Vertrauen und Liebe. Und, wie gesagt, dieses Glück kam völlig überraschend. Plötzlich stand er mir gegenüber und fragte: „Was machen wir jetzt?“
Jetzt, das war der Moment, an dem die meisten aus unserem kleinen Grüppchen ihre Skier auf die Autos gepackt hatten und abgereist waren, zu ihren Klausuren, an ihren Schreibtisch im Büro oder zu ihrer Arbeit in Haus und Küche. Alle waren unterwegs nach Hause, außer uns zweien. Wir waren übrig geblieben und standen nun auf unseren Brettern am Platz neben dem Ausstieg, wo wir uns tags zuvor noch mit den anderen versammelt hatten, bevor es auf die Piste ging. Jetzt nur wir zwei. Er und ich. Wir hatten noch einen Tag Zeit, einen ganzen Tag. ‚Was machen wir jetzt?’ Was für eine Frage! Wir waren doch schon oben angekommen, an der höchsten Stelle, von der wir die beste Aussicht über das ganze Winterland hatten. So bizarr die Farben und Formen, so schroff und so sanft. In der einen Richtung der felsige Lange, daneben der etwas kleinere Bruder und zwischen den beiden eine Scharte, die Jahr für Jahr einigen waghalsigen Skifreaks zum Verhängnis wurde, und zur anderen Seite hin der Blick auf die schneebedeckte Passstraße mit dem gemütlich rauchenden Schornstein auf dem Rasthaus, an dem hin und wieder ein Auto anhielt oder ein anderes mehr oder weniger  schleichend vorüberfuhr. Und ganz rechts der Blick hinunter über steile und sanfte Skihänge bis zum Wald und darüber hinaus auf die weißen Dächer rund um den Kirchturm des kleinen Ortes.
Wir begannen die Abfahrt, machten erste verhaltene Schwünge, immer wieder aufeinander achtend, mit fast ungläubigen Blicken nach jedem Hügel, so ungewohnt, nur wir zwei auf der Piste, auf der wir bisher immer zu mehreren gewesen waren. Der Weg führte uns in Serpentinen durch den Wald hinunter in den Ort, vorbei an der kleinen Kirche zum Einstieg etwas oberhalb, von dem uns ein Sessel auf die nächste Passhöhe brachte. Eng nebeneinander saßen wir und berührten uns zaghaft mit den Skiern, er mit dem rechten, ich mit dem linken,  hin und wieder ein Blick, als könnten wir es immer noch nicht begreifen. Oben angekommen, eine kurze Abstimmung und gleich wieder hinunter, mal er hinter mir, mal ich hinter ihm, Kurve um Kurve, Strecke für Strecke, Ort für Ort, Sessellift, Passhöhe, immer weiter, hoch und runter, durch die steinerne Stadt zu Füßen des felsigen Langen und des kleinen Bruders, vorbei an der Scharte der Waghalsigen. Wie schön das war, nur er und ich über vier Pässe und durch vier Täler, bis wir schließlich dort ankamen, wo wir einige Stunden zuvor gestartet waren.
Ich erzähle dir das, um dir klarzumachen, dass mit dir jetzt alles anders ist und damit du verstehst, was das für mich bedeutet und warum ich ihn nicht verlieren will, warum ich mich fragen muss: Du oder er? 
Am Abend dann in dem Haus oben am Berg, in dem wir tags zuvor mit so vielen am Tisch saßen, jetzt nur wir zwei. Spagetti Bolognese hatten wir in die Schüsseln gezaubert, dazu Parmiggiano. Nach dem Essen hörten wir Musik. Meine Lieblingssongs mochte er, ich seine ebenfalls. Wir lachten und tanzten, auseinander zusammen, auseinander zusammen, stundenlang. Dann holte er seine Gitarre hervor. Ein Stück gefiel mir besonders. Ich wollte es noch einmal hören. Er spielte es noch einmal. Immer wieder spielte er diese Melodie. Sie begleitete mich die ganze Nacht lang und am nächsten Morgen war sie immer noch da. Und am Tag darauf, in der nächsten Nacht, die ganze Zeit war sie bei uns. Er und ich und unsere Melodie.
Drei Monate haben wir nun schon diese ungestörte Zweisamkeit, jeden Samstag, jeden Sonntag, viele Abende und Nächte. Zusammen einkaufen, kochen, essen, Musik hören, tanzen, bummeln in Fußgängerzonen, durch Wälder und Parks, meine Hand in seiner Hand, reden über schwarze Löcher und ‚Rosen im Asphalt’.
Unser nächstes gemeinsames Projekt sollte eine Wanderung in unserem Winterparadies sein, jedoch ohne Schnee. Für diesen Sommer war es geplant und sogar schon in den Details vorbereitet. Mit Rucksack und Zelt wollten wir unterwegs sein, den schroffen Langen, seinen kleinen Bruder und die Scharte der Waghalsigen mal aus der Nähe betrachten, durch die steinerne Stadt gehen und dann weiter, Berge und Täler durchwandern, zu Fuß das Massiv umrunden. Unser Sommerprojekt nennen wir das, nannten wir das, hatten es uns so schön vorgestellt. Und nun knallst du in unser Leben, bist plötzlich da und bleibst auch da, hast dich schon eingenistet, als sei das ganz selbstverständlich. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass du kommst. Vierzig Jahre lang hat mich nichts so aus der Bahn geworfen. Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen, zu unruhig war ich, viel zu unruhig. Wie soll es weitergehen? Mit dir dabei ist nichts mehr wie vorher. Tag und Nacht bist du nun dabei. Nie mehr bin ich allein. Nie mehr sind wir zu zweit, er und ich. Wie wird er reagieren, wenn er es erfährt? Mein lieber Träumer. So jung und unverbraucht. Bisher hat ihm das Leben noch keine solche Verantwortung aufgebürdet. Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn er plötzlich so gefordert wird wie mit dir. Er soll sich nicht verändern, soll immer der liebe Träumer bleiben. Doch ich befürchte fast, dass das nicht geht. Aus der Traum. Was wird er sagen? Über die Möglichkeit, du könntest dazukommen, haben wir nie gesprochen. Vielleicht hätten wir es noch getan. Irgendwann wäre es vielleicht ein Thema gewesen. Und nun bist du schon da. Konntest nicht mehr warten. Ich habe Angst, dass sein helles Gesicht sich verfinstert und dass jetzt alles vorbei ist.
Vorhin hat er angerufen. Er war so lieb, kommt heute schon etwas früher, hat es extra möglich gemacht, freut sich auf mich. Am Telefon konnte ich es ihm nicht sagen. Es ging einfach nicht. In seine Fröhlichkeit wollte ich nicht hineinplatzen mit dieser Botschaft. Ich weiß ja selbst erst seit gestern, dass du da bist. Was ich empfand, als ich es erfuhr? Das sollst du auf jeden Fall wissen. Mein Herz hüpfte, als wollte es aus der Brust springen. Und wenn ich in mich hineinhorche, ist es heute immer noch so. Ja, mein Bauch sagt etwas anderes als mein Kopf. Ein tolles warmes Gefühl habe ich, spüre intensiv, dass du da bist. Angenehm süß die leichte Übelkeit. Ein paar Millimeter groß bist du erst, doch dein Herz schlägt schon. Ein gerade erst begonnenes Leben, ein ganz kleines Leben, ein winziges Leben. Dein Leben. Dein Herzschlag. Was meinst du? Ich soll noch mal überlegen, warum die Frage: Du oder er? Das ist ja eine ganz neue Sichtweise. Gar kein Dilemma? Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Recht hast du. Warum eigentlich diese dumme Frage? Zumal sie ja für mich ohnehin längst beantwortet wäre, sollte sie sich denn so stellen, was ja gar nicht der Fall ist. Du oder er? Was soll überhaupt das ‚oder’? Ich werde es gegen ein ‚und’ austauschen. Du und er, muss es heißen. Noch besser: Du und er und ich.
Je mehr ich nun darüber nachdenke, desto mehr gewöhne ich mich an den Gedanken. Du und er und ich. Wir sind jetzt drei. Ja, das werde ich ihm sagen. Und er muss wissen, dass jetzt alles ein bisschen anders wird, vor allem, dass ich höllisch aufpassen muss auf dich, damit dir nichts passiert. Das ist wichtiger als alles andere im Moment. Nichts werde ich tun, was dich in Gefahr bringen könnte. Deshalb werden wir das Sommerprojekt streichen müssen. Eine Wanderung in den Bergen wäre nichts für dich, viel zu gefährlich. Du musst erst noch ganz doll wachsen, bis du groß und stark genug bist für diese Welt. Im nächsten Sommer nehmen wir dich dann mit zum felsigen Langen. Der blinzelt seinem kleinen Bruder zu, ohne dass es jemand sieht, und die beiden Unentwegten amüsieren sich still. Dein Vater hat anstatt Rucksack dann dich in der Trage auf dem Rücken und zu dritt wandern wir ein kleines Stück entlang der Scharte der Waghalsigen und durch die steinerne Stadt.
Gleich wird er hereinkommen und sich auf seinen Platz im Sofa setzen. Da bleibt nur noch eine Frage: Wie sag ich es ihm? Am besten besorge ich uns erst einmal einen Pott Kaffee aus der Küche. Dann setze ich mich neben ihn und schaue ihn an. Sein helles Gesicht strahlt. ‚Was machen wir jetzt?’, fragen seine Augen. Meine Antwort kannst du dir schon vorstellen: ‚Wir haben ein winziges neues Projekt’, werde ich sagen.


Leseprobe aus Wenn wir von Liebe reden

Sechs Wanderungen in den Dolomiten