Dienstag, 23. April 2013

... und immer wieder die Gitarre


Es gibt keinen anderen Weg. Ohne Helen kann er in diesem Haus nicht wohnen bleiben. Der Triumphblitz in ihren Augen, heute Morgen beim Abschied. Er spürt ihn noch in der Herzgegend. „Wir hören voneinander“, hören voneinander …
Den ganzen Tag über hat ihn das kaputt gemacht, den ganzen Nachmittag hat er geheult. Sein Tagebuch neben der leeren Kaffeetasse auf dem Nachttisch. Er nimmt es in die Hand. Streicht über das dunkelrote Leder, so weich. Überall hat er es dabei. Was würde er nur tun ohne diesen geduldigen Zuhörer? Was soll aus ihm nur werden?
Es wird still sein hier im Haus, wenn er morgen Nachmittag von seiner Mutter zurückkommt, totenstill. Die Geräusche von der Straße werden nichts mit ihm zu tun haben, von weit her werden sie kommen. Rasenmäher, Traktoren und Stimmen in Watte gepackt. Genau wie jetzt. Wieder wird er auf dem Sofa liegen und die Lichtstreifen der Abendsonne werden ganz langsam an der Wand entlang wandern, das Bücherregal erreichen, von Lücke zu Lücke springen, bis zum Boden, bis sie verschwunden sind. Er wird darauf warten, dass es dunkel wird in diesem Haus. Auf nichts sonst wird er warten, auf niemanden.
Von Helen ist er kuriert. Mit ihr will er nichts mehr zu tun haben, wird von ihr befreit sein, ein für alle Mal. Wie konnte er nur in diese Abhängigkeit geraten? Der Weg ist zu Ende, hat sie gesagt, sie beide wären an ihrer kaputten Jugend gescheitert. Nein, nein, nicht die kaputte Jugend. Sie ist im Irrtum. Der Grund ist ein anderer. Helen bringt es nicht fertig, ihn neben sich zu akzeptieren, einen Hausmann. Das wollte er ihr noch sagen an dem Abend, als sie an der Küchentheke saßen und sie endlich Klartext redete. Vieles wollte er ihr noch sagen, zum Beispiel, dass sie selbst ihn doch unbedingt als Hausmann haben wollte, seinerzeit, als Aaron klein war.
Übermorgen wird er sich das möblierte Zimmer ansehen. Nicht hier im Ort, sondern im Nachbardorf. Mitleidige Blicke könnte er nicht ertragen. Dann Schrittchen für Schrittchen seinen Weg in die Freiheit organisieren. Er glaubt fest daran, dass er seine innere Ruhe wieder findet und irgendwann auch wieder schlafen kann.
Als sie vor einem Jahr in dieses Haus einzogen, konnte er sich nicht vorstellen, jemals wieder auszuziehen. Alles war so, wie er es sich erträumt hatte, offene Räume, Holztreppe, Innenhof. Gut durchgeplant und liebevoll ausgestattet, in warmen Farben. Zugegeben, es stimmte da schon nicht mehr so richtig zwischen ihnen. Die getrennten Schlafzimmer sollten eine Chance sein, Distanz ermöglichen, damit sie sich nicht von ihm bedrängt fühlte. Irgendwann würde sie wieder so sein wie früher, zärtlich und offen. Niemand außer ihm kannte diese Helen. Sie würden schon wieder zusammenfinden, Karriere und Erfolg nicht mehr so wichtig für sie sein. Wenn sie doch endlich aufhören würde, verbissen ihren beruflichen Zielen nachzujagen!
Was zieht sie zu dem anderen Mann? Warum fühlt sie sich von dem nicht eingeengt? Täglich ist sie mit ihm zusammen, von morgens bis abends und nun auch in den Nächten. Mit ihm ist sie glücklich. Gemeinsam gehen sie zum Tanzen und besuchen Konzerte. Sogar eine Reise haben sie gebucht. Selbst für Urlaub hat sie plötzlich Zeit.
Martin wischt die Tränen ab, obwohl er weiß, dass das nichts nützt, dass er sich nicht wehren kann gegen die Traurigkeit, und schon gar nicht, wenn er jetzt aufsteht, zum Plattenspieler schlurft, sich neben den Hund auf den Teppich legt und wieder und wieder diese Stimme hört und die Gitarre, wie sie weint, wieder und wieder, er weiß nicht mehr, wie oft, musste die Langspielplatte schon neu kaufen, weil er den Kratzer nicht ertragen konnte, den kleinen Kratzer. Weil das Lied so kurz ist, muss er die Nadel immer wieder neu aufsetzen, immer wieder den Anfang finden: „I love you, you love him, there’s nothing I can do. It was in my destiny to fall for you. You say why, don’t I try to find someone new? It was in my destiny …“

(Song: Destiny, José Feliciano, Anne Murray 1970)

Leseprobe "Destiny" aus: Wenn wir von Liebe reden


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