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La Grande Chartreuse
(Ausflug zum Kartäuserkloster bei Grenoble - Mai 1845)
(Ausflug zum Kartäuserkloster bei Grenoble - Mai 1845)
Nach einer Übernachtung in Grenoble hatte
Malwida Gelegenheit, das Gelübde an den Weltgeist zu bestätigen. Zusammen mit
Herrn Ludwig und den beiden Jungen ließ sie sich mit der Kutsche in ein nahe
gelegenes Dorf bringen. Von dort aus wagte sie sich auf einem Mautier an den
Aufstieg zum Karthäuserkloster. Geführt wurde die Gruppe von einem kundigen
Manne. Hätte sie gedacht, was auf sie zukam? Zwischen riesigen Felswänden
durchquerten sie eine Schlucht, in deren Tiefe ein reißendes Gewässer tobte. Immer
enger wurde der Pfad und immer bedrohlicher der Abgrund. Irgendwann befanden sie
sich wohl oberhalb der Vegetationsgrenze, wo nichts mehr zu leben schien.
Todestor nannte man den Durchbruch im Felsen, den sie passieren mussten. In
dieser schauerlichen Szenerie fühlte sich Malwida sich an Dantes Höllentor
erinnert und war dann ganz erstaunt, als sie in ungefähr 2000 Metern Höhe zu
Füßen des Bergmassivs eine Ebene in üppigem Grün erreichten. Hier wuchsen
prächtige Bäume und Blumen in den schönsten Farben.
Am Eingang der Klosteranlage wurden sie von
zwei Laienbrüdern empfangen. Ohne ein Wort zu wechseln, nahm der eine den
Bergführer zur Seite und brachte zusammen mit ihm die Maultiere in einen Stall.
Der andere Klostermann stand da und schwieg. Die Kutte hing über seinen leicht
nach vorne gebeugten Schultern und fiel ihm bis auf die Sandalen. Ein dicker
Hornknopf hielt das etwas dünnere Leinenhemd darunter zusammen. Nichts an
dieser Kleidung und der Art, wie er sie trug, vermittelte den Eindruck, als
würde sie ihn einengen, auch nicht die Kapuze, obwohl sie Hals und Nacken
schwer umschloss. Sah so jemand aus, der am Ende eines steinigen Weges die
Wahrheit gefunden hatte? Die Wahrheit, nach der zu streben sie gerade einen Tag
zuvor auf der steilen, vereisten Passstraße gelobt hatte? Das Hell und Dunkel
seines Gesichtes diesseits und jenseits der scharfen Trennlinie über Stirn,
Nase und Mund, vermittelten den Eindruck einer unerschütterlichen Gelassenheit.
Es war eine andere Art von Gelassenheit, die dieser Mann ausstrahlte. Sie
gehörte ebenso hierher wie der gefährliche Pfad zwischen schroffen Felsen und
Abgründen, wie das Höllentor, wie die fruchtbare Ebene und der in der Abendsonne
leuchtende Felsgipfel.
Es mochte eine Stunde vergangen sein,
vielleicht weniger, vielleicht mehr. Der große Schweiger hatte Herrn Ludwig zum
Eingangsportal des Klosters gebracht, sie und die Jungen in das kleine Holzhaus
geführt, wo er sie mit Brot, Butter und Tee bewirtet hatte. Nun stand er in
diesem winzigen Raum ihr gegenüber und nickte, unentwegt lächelnd. Sein
Schweigen konnte sie kaum ertragen. Noch keinen Laut hatte sie aus seinem Munde
gehört. Selbst sein Blick wirkte stumm. Nicht die kleinste Bewegung der Kutte.
Doch was hatte sie erwartet? Befolgte er doch nur die Regel, die ihr allerdings
bis vor ein paar Minuten unbekannt gewesen war. Sie durfte das Innere des
Klosters nicht betreten. Das durften nur Männer. Ihr war nun dieses winzige
Domizil zugewiesen. Es war alles da, was sie für einen Abend und eine Nacht
brauchte: Bett, Stuhl und Waschtisch, auch was sie nicht brauchte: Betbank,
Kruzifix und Weihwasserbecken. Sie nickte und versuchte den Schweiger dabei
anzulächeln. Ein aufgesetztes Lächeln, doch das merkte er nicht. Er hatte aber
verstanden, dass sie nun allein sein wollte. Mit einer höflichen Verbeugung
drehte er sich um und ging hinaus, wobei jeder Schritt auf knarrenden Dielen
und Treppenstufen in dem Holzhaus nachhallte.
Müde vor Enttäuschung ließ sie sich auf den
Stuhl fallen. Unten räumte der Laienbruder das Essgeschirr vom Tisch, wusch es
ab und stellte Stück für Stück in den Schrank. Das konnte sie nicht sehen,
jedoch hören und sich vorstellen. Nach getaner Arbeit verließ er das Haus, schob
den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn herum. Dann schlurfte er davon, zu
den anderen Klostermännern, die ihr schweigsames Leben ihrem Gott gewidmet
hatten. Dort befand sich auch der Besucher für einen Abend und eine Nacht, mit
dem zusammen sie die Gebirgstour von Grenoble aus hier hinauf gemacht hatte und
der nun dieses Vorrecht genoss.
Malwida zog ihr Skizzenbuch aus der Tasche
und legte es sich auf die Knie. Mit den Augen verfolgte sie die Windungen des
marmorierten Musters auf der Vorderseite. Dann zeichnete sie die Linien mit dem
Finger nach. Das leise Wischgeräusch bei der Berührung mit der rauen Pappe
dämpfte die innere Unruhe. Sie begann immer wieder von vorne, während sich langsam
ihre Gedanken ordneten. Sie öffnete das Fenster und schob die beiden Flügel
beiseite. Hinter den Mauern die Gemeinschaft der Männer und sie hier außerhalb
der klösterlichen Festung als stille Beobachterin, allein mit ihrem
marmorierten Skizzenbuch, das nun aufgeschlagen vor ihr auf der Fensterbank
lag. Weich flossen ihre langen Haare über Schultern und Rücken, als sie das
Band löste. Dann zeichnete sie, was der Bildausschnitt auf die große Kartause
freigab. In der Mitte das Haus mit dem bogenförmigen Eingangsportal, das sie
nicht betreten durfte. Hinter hohen Mauern die sichtbaren Teile von Gebäuden
mit Fenstern, Dächern und Türmen.
Als die Dämmerung eintrat, war sie mit
ihrem Stift längst hoch oben auf dem Bergmassiv angekommen, bei den unzähligen
dunklen Tannen, die sich hoch kämpften und unterhalb des Gipfels in einem
langen dunklen Saum endeten. Sie zeichnete jede einzelne. Oberhalb schlängelte
sich ein Lichtpfad hinauf auf ein silbern strahlendes Plateau, das sie leichten
Fußes erreichte. Als sie über die Fläche schwebte, spürte sie ihre Haare und
die Schleppe ihres Gewandes frei im Lufthauch wehen. Ein heller Glockenton, ein
weiterer und noch einer setzten die Silberstrahlen in tausend und abertausend
Schwingungen. Als die Glocke verklungen war, intonierten Stimmen einen Gesang,
der ihr nicht fremd war. Als hätte sie Worte und Melodie immer schon gesungen
und würde nie damit aufhören, stimmte sie mit ein: Ich zögere nicht, gehe den einsamen
Pfad, den jeder geht, der die Wahrheit sucht.
Als dicke weiße Flocken vom Himmel
herabwirbelten, sich auf ihrem Gesicht auflösten und kühle Tropfen auf das
dunkle Portal hinunterrollten, klappte sie das Skizzenbuch zu und legte es zur
Seite.
Durch lautes Klopfen und die aufgeregte
Stimme des Erziehers wurde sie früh am nächsten Morgen geweckt.
[...]
Leseprobe aus: Wenn wir von Liebe reden
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