Donnerstag, 11. April 2013

... kann das bei den Kartäusern sein

"La Grande Chartreuse" © Floriel http://commons.wikimedia.org/wiki/


La Grande Chartreuse
 (Ausflug zum Kartäuserkloster bei Grenoble - Mai 1845) 

Nach einer Übernachtung in Grenoble hatte Malwida Gelegenheit, das Gelübde an den Weltgeist zu bestätigen. Zusammen mit Herrn Ludwig und den beiden Jungen ließ sie sich mit der Kutsche in ein nahe gelegenes Dorf bringen. Von dort aus wagte sie sich auf einem Mautier an den Aufstieg zum Karthäuserkloster. Geführt wurde die Gruppe von einem kundigen Manne. Hätte sie gedacht, was auf sie zukam? Zwischen riesigen Felswänden durchquerten sie eine Schlucht, in deren Tiefe ein reißendes Gewässer tobte. Immer enger wurde der Pfad und immer bedrohlicher der Abgrund. Irgendwann befanden sie sich wohl oberhalb der Vegetationsgrenze, wo nichts mehr zu leben schien. Todestor nannte man den Durchbruch im Felsen, den sie passieren mussten. In dieser schauerlichen Szenerie fühlte sich Malwida sich an Dantes Höllentor erinnert und war dann ganz erstaunt, als sie in ungefähr 2000 Metern Höhe zu Füßen des Bergmassivs eine Ebene in üppigem Grün erreichten. Hier wuchsen prächtige Bäume und Blumen in den schönsten Farben.

Am Eingang der Klosteranlage wurden sie von zwei Laienbrüdern empfangen. Ohne ein Wort zu wechseln, nahm der eine den Bergführer zur Seite und brachte zusammen mit ihm die Maultiere in einen Stall. Der andere Klostermann stand da und schwieg. Die Kutte hing über seinen leicht nach vorne gebeugten Schultern und fiel ihm bis auf die Sandalen. Ein dicker Hornknopf hielt das etwas dünnere Leinenhemd darunter zusammen. Nichts an dieser Kleidung und der Art, wie er sie trug, vermittelte den Eindruck, als würde sie ihn einengen, auch nicht die Kapuze, obwohl sie Hals und Nacken schwer umschloss. Sah so jemand aus, der am Ende eines steinigen Weges die Wahrheit gefunden hatte? Die Wahrheit, nach der zu streben sie gerade einen Tag zuvor auf der steilen, vereisten Passstraße gelobt hatte? Das Hell und Dunkel seines Gesichtes diesseits und jenseits der scharfen Trennlinie über Stirn, Nase und Mund, vermittelten den Eindruck einer unerschütterlichen Gelassenheit. Es war eine andere Art von Gelassenheit, die dieser Mann ausstrahlte. Sie gehörte ebenso hierher wie der gefährliche Pfad zwischen schroffen Felsen und Abgründen, wie das Höllentor, wie die fruchtbare Ebene und der in der Abendsonne leuchtende Felsgipfel.

Es mochte eine Stunde vergangen sein, vielleicht weniger, vielleicht mehr. Der große Schweiger hatte Herrn Ludwig zum Eingangsportal des Klosters gebracht, sie und die Jungen in das kleine Holzhaus geführt, wo er sie mit Brot, Butter und Tee bewirtet hatte. Nun stand er in diesem winzigen Raum ihr gegenüber und nickte, unentwegt lächelnd. Sein Schweigen konnte sie kaum ertragen. Noch keinen Laut hatte sie aus seinem Munde gehört. Selbst sein Blick wirkte stumm. Nicht die kleinste Bewegung der Kutte. Doch was hatte sie erwartet? Befolgte er doch nur die Regel, die ihr allerdings bis vor ein paar Minuten unbekannt gewesen war. Sie durfte das Innere des Klosters nicht betreten. Das durften nur Männer. Ihr war nun dieses winzige Domizil zugewiesen. Es war alles da, was sie für einen Abend und eine Nacht brauchte: Bett, Stuhl und Waschtisch, auch was sie nicht brauchte: Betbank, Kruzifix und Weihwasserbecken. Sie nickte und versuchte den Schweiger dabei anzulächeln. Ein aufgesetztes Lächeln, doch das merkte er nicht. Er hatte aber verstanden, dass sie nun allein sein wollte. Mit einer höflichen Verbeugung drehte er sich um und ging hinaus, wobei jeder Schritt auf knarrenden Dielen und Treppenstufen in dem Holzhaus nachhallte.
Müde vor Enttäuschung ließ sie sich auf den Stuhl fallen. Unten räumte der Laienbruder das Essgeschirr vom Tisch, wusch es ab und stellte Stück für Stück in den Schrank. Das konnte sie nicht sehen, jedoch hören und sich vorstellen. Nach getaner Arbeit verließ er das Haus, schob den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn herum. Dann schlurfte er davon, zu den anderen Klostermännern, die ihr schweigsames Leben ihrem Gott gewidmet hatten. Dort befand sich auch der Besucher für einen Abend und eine Nacht, mit dem zusammen sie die Gebirgstour von Grenoble aus hier hinauf gemacht hatte und der nun dieses Vorrecht genoss.

Malwida zog ihr Skizzenbuch aus der Tasche und legte es sich auf die Knie. Mit den Augen verfolgte sie die Windungen des marmorierten Musters auf der Vorderseite. Dann zeichnete sie die Linien mit dem Finger nach. Das leise Wischgeräusch bei der Berührung mit der rauen Pappe dämpfte die innere Unruhe. Sie begann immer wieder von vorne, während sich langsam ihre Gedanken ordneten. Sie öffnete das Fenster und schob die beiden Flügel beiseite. Hinter den Mauern die Gemeinschaft der Männer und sie hier außerhalb der klösterlichen Festung als stille Beobachterin, allein mit ihrem marmorierten Skizzenbuch, das nun aufgeschlagen vor ihr auf der Fensterbank lag. Weich flossen ihre langen Haare über Schultern und Rücken, als sie das Band löste. Dann zeichnete sie, was der Bildausschnitt auf die große Kartause freigab. In der Mitte das Haus mit dem bogenförmigen Eingangsportal, das sie nicht betreten durfte. Hinter hohen Mauern die sichtbaren Teile von Gebäuden mit Fenstern, Dächern und Türmen.
Als die Dämmerung eintrat, war sie mit ihrem Stift längst hoch oben auf dem Bergmassiv angekommen, bei den unzähligen dunklen Tannen, die sich hoch kämpften und unterhalb des Gipfels in einem langen dunklen Saum endeten. Sie zeichnete jede einzelne. Oberhalb schlängelte sich ein Lichtpfad hinauf auf ein silbern strahlendes Plateau, das sie leichten Fußes erreichte. Als sie über die Fläche schwebte, spürte sie ihre Haare und die Schleppe ihres Gewandes frei im Lufthauch wehen. Ein heller Glockenton, ein weiterer und noch einer setzten die Silberstrahlen in tausend und abertausend Schwingungen. Als die Glocke verklungen war, intonierten Stimmen einen Gesang, der ihr nicht fremd war. Als hätte sie Worte und Melodie immer schon gesungen und würde nie damit aufhören, stimmte sie mit ein: Ich zögere nicht, gehe den einsamen Pfad, den jeder geht, der die Wahrheit sucht.
Als dicke weiße Flocken vom Himmel herabwirbelten, sich auf ihrem Gesicht auflösten und kühle Tropfen auf das dunkle Portal hinunterrollten, klappte sie das Skizzenbuch zu und legte es zur Seite. 

Durch lautes Klopfen und die aufgeregte Stimme des Erziehers wurde sie früh am nächsten Morgen geweckt.

[...]

Leseprobe aus: Wenn wir von Liebe reden



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